Religion nach dem "Tod Gottes". Spirituelle und intellektuelle Sinndeutungskonzepte der Moderne

Religion nach dem "Tod Gottes". Spirituelle und intellektuelle Sinndeutungskonzepte der Moderne

Organisatoren
Evangelischen Akademie Thüringen; Thomas A. Seidel; Justus H. Ulbricht
Ort
Neudietendorf
Land
Deutschland
Vom - Bis
08.10.2004 - 10.10.2004
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Von
Martin Wald, Humboldt-Universität zu Berlin

Welche Möglichkeiten religiöser Sinnsuche stehen in einer Zeit der "transzendentalen Obdachlosigkeit" (Georg Lukács) zur Verfügung? Wie verändern sich die Religionsentwürfe unter den Bedingungen der Moderne? Was für Gesprächsangebote kann dabei das Christentum den Religionslosen machen? Eine von der Evangelischen Akademie Thüringen ausgerichtete Tagung im Zinzendorfhaus/Neudietendorf, die von dem Direktor der Akademie, dem Kirchenhistoriker Thomas A. Seidel, und dem Kulturhistoriker Justus H. Ulbricht organisiert wurde, stellte diese Fragen und bot einige Antworten an.

Ulbricht, Leiter des Nietzsche-Archivs in Weimar, führte über die Nietzsche-Rezeption um 1900 in das Tagungsthema ein. Er erinnerte an den häufig vergessenen erzählerischen Zusammenhang der Erfindung des Wortes vom "Tod Gottes". In seiner "Fröhlichen Wissenschaft" lässt Nietzsche einen "tollen Menschen" am hellichten Vormittag auf dem Marktplatz eine Laterne anzünden und hinausschreien: "Ich suche Gott! Ich suche Gott!". "Da dort gerade viele von denen zusammenstanden, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er großes Gelächter."1 Der "Tod Gottes" beginnt also mit der Suche nach ihm und seiner Unauffindbarkeit - in der Wissenschaft, der Gesellschaft, den großen Kirchen. Wer Nietzsche zustimmend las, verortete sich immer noch im christlichen Sinnsystem, wie zum Beispiel Carl Zuckmayer in Erinnerung an seine Schulzeit: "Ich verfiel dem ‚Zarathustra', verfiel dem verführerischsten und genialsten ‚Antichristen' unserer Zeitläufte mit Leib und Seele, so wie einer im Volksbuch dem Teufel verfällt."2

Der Religionsphilosoph und katholische Theologe Eberhard Tiefensee (Univ. Erfurt) nahm Ulbrichts Ball auf und vermutete, Nietzsches "toller Mensch" würde heute in weiten Teilen Ostdeutschlands gar nicht mehr verstanden werden. Statt zu lachen und spöttisch zu fragen "Ist Gott denn verlorengegangen?", würden sie achselzuckend fragen: "Was will er?" Die Zahl der Christen in Ostdeutschland sank von 95 % 1946 auf unter 30 % heute. Auf einer "sozioreligiösen" Skala Europas liegt Ostdeutschland auf dem drittletzten Platz, nur noch vor Schweden und Tschechien. Tiefensee trennte in seinem Vortrag kategoriell die "Atheisten", die sich durch diese Selbstkennzeichnung noch religiös zu verorten verstehen, von den "Areligiösen", für die, mit Nietzsche gesprochen, der ganze religiöse Horizont weggewischt ist. Der Christ darf nach Tiefensee aber nicht dabei stehenbleiben, die schwierige bis unmögliche Kommunikation zwischen Christen und Areligiösen zu beklagen, sondern muss sich der Grundlagen seines Glaubens bewusst werden und sich gerade für diese Kommunikationssituationen trainieren. Nur so ist vielleicht irgendwann eine "Ökumene der dritten Art" möglich.

Wie Tiefensee, der sich der Definitionsfrage zunächst hatte entziehen wollen, plädierte auch der Philosoph und Soziologe Johannes Weiß (Univ. Kassel) für einen engeren Religionsbegriff. Er verfocht damit die soziologische Position Max Webers gegen jene Emile Durkheims. Da die Wissenschaft erst dort stark wird, wo sie zu differenzieren vermag, bringt es, so Weiß, auch gar nichts, mit der Säkularisierungsthese vollends aufzuräumen, wie es neuerdings Friedrich Wilhelm Graf in seinem Buch "Die Wiederkehr der Götter" getan hat.3 Vor allem sei es schmerzlich zu sehen, dass aus der evangelischen Theologie kein vielversprechenderer Ansatz kommt als die Kennzeichnung aller irgendwie religionssoziologisch analysierbaren Phänomene als "religiös". Dies fängt dann bei den Pilgerfahrten zur Documenta und beim Besuch der Arena "Auf Schalke" an und endet beim Einkaufsbummel und beim Autowaschtag. Der Kern der Säkularisierungsthese ist es aber, wie Weiß ausführte, dass keine religiösen Systeme mehr existieren, die allgemeinverbindlich sind, eine kaum bestreitbare Tatsache. Ersetzt wird die ältere Glaubenskultur allerdings durch eine religiöse Fast-Food-Kultur, die nach dem Preis-Leistungs-Verhältnis funktioniert.

Im Anschluss warf der Historiker Thomas Mittmann (Ruhr-Univ. Bochum) den Blick zurück auf die Anfänge dieser Entwicklung. Nietzsches Aufkündigung eines Traditionskonsenses war so wirkungsmächtig, dass der Philosoph als Religionsstifter rezipiert wurde und sich Glaubensgemeinschaften bildeten, die in direkter Abhängigkeit zum nietzscheanischen Denken standen. Den Anfang machte ab 1889 der evangelische Theologe Albert Kalthoff, dessen "Protestantischer Reformverein", von der Bremer St. Martini-Gemeinde ausgehend, Zweiggemeinden gründete, deren Ziel darin bestand, Menschen zur Selbstständigkeit zu erziehen. "Herrenmenschen, keine Herdenmenschen" lautete das Schlagwort. Prototypisch für die Nietzscheanische Religiosität war der "Bund für persönliche Religion", der 1906 von den Brüdern August und Ernst Horneffer gegründet wurde. Die schöpferische Kraft des Menschen wurde von ihnen als "Mittel zur Selbsterlösung" gefeiert. Alle diese religiösen Gruppen zeichneten sich anfangs noch durch eine politische Vagheit aus; erst während des Ersten Weltkrieges lässt sich ein eindeutiger Ruck zur völkischen Ideologie feststellen. In der Diskussion um Mittmanns Vortrag wurde herausgearbeitet, dass auch die religiösen Hoffnungen, die sich vor 100 Jahren mit der Ausrufung des "Todes Gottes" verbanden, für die heutige Zeit keine Option mehr darstellen. Die Nietzscheanische "Vergöttlichung des Menschen" hat mit den heutigen religiösen Selbstfindungen nicht mehr das Geringste zu tun. Sie war nicht nur ein ideologischer, sondern auch ein religiöser Holzweg.

Immer wieder wurde in den letzten Jahren der Nationalismus als die wichtigste der modernen "Ersatzreligionen" beschrieben. Die Religionswissenschaftlerin Susanne Lanwerd (Freie Universität Berlin) fügte ihren Beitrag zum jüdischen Totengedenken in und nach dem Ersten Weltkrieg in die Debatte um diese Großthese ein. In einer Zeit, als rechte Kreise das Jüdische massiv aus der deutschen Nation hinauszudefinieren strebten, fand der "Reichsbund jüdischer Frontsoldaten" (RjF) Mittel und Wege, die beiden Identitäten `jüdisch´ und `deutsch´ ikonografisch zu amalgamieren. Eine Zeichnung Max Liebermanns, "Den Müttern der 10000" von 1923, symbolisierte das Kriegsleid durch eine klagende Mutterfigur, der "Mutter Israel", und fand von dort den Weg auf das Titelblatt der RjF-Zeitschrift "Der Schild". Als Antwort darauf, dass die Antisemiten das Judentum als schwach und verweiblicht diffamierten, fanden aber auch `männlich-deutsche´ Motive ihren Platz im jüdischen Totengedenken: Das biblische Makkabäer-Narrativ verband das Märtyrermotiv, das soldatische Heldenbild und den Topos des Widerstands einer Minderheit gegen eine Mehrheit. Das jüdische Totengedenken war also unter dem Einfluss der modernen Glaubensüberzeugung des Nationalismus überaus anpassungs- und anschlussfähig, aber auch mit Spannungen behaftet.

Einen sozialwissenschaftlichen, eher trockenen Part spielte auf der Tagung der Politologe Peter Berghoff (Uni Duisburg, Institut für Religionspolitologie). Berghoff stellt sich die Frage: Welche Dimensionen des Religiösen mischen sich in die heutigen Begriffe des Politischen hinein? Speziell für den US-amerikanischen Fall steht jedem klar vor Augen, dass der "Tod Gottes" zumindest die Außenpolitik der Bush-Administration, die von "Kreuzzügen" und "Achsen des Bösen" spricht, nicht erreicht hat. Berghoff arbeitet deshalb zur Zeit an einer Typologie der Diabolik im Politischen. Die einheitsstiftenden "Symbole" sehen sich mit "Diabolen" konfrontiert, die diese sinngebende symbolische Realität zerteilen, verfeinden und zerstören. Berghoff exerzierte diesen politischen Konflikt für sechs Ebenen durch, ließ aber, wie die Teilnehmer im Anschluss einwandten, zu viele Grundlegungen unausgesprochen: Vor allem wurde nicht deutlich, inwieweit das Modell praktische Fälle zu verarbeiten in der Lage ist, ob es nur um das zugeschriebene oder auch das tatsächlich Böse geht, und in welchem Verhältnis die Symbole und Diabole überhaupt zum fundamentalen ethischen Gehalt der Begriffe Gut und Böse stehen.

Die Kunst der Frida Kahlo brachte die Teilnehmer wieder zu den sinnlicheren Facetten des Themas zurück. Entlang ihres Buches "Ich habe mich in eine Heilige verwandelt" sprach die Autorin und Literaturwissenschaftlerin Annette Seemann (Weimar) über die religiös-künstlerische Sinnsuche der mexikanischen Malerin. Die Biografie Kahlos erhellt schlaglichtartig, dass der religiöse Horizont auch in der Moderne immer dort manifest ist, wo das persönliche und das kollektive Leid in allen weltlichen Deutungsmustern keinen Trost mehr finden kann. Ihre Trennung vom geliebten Diego Rivera verarbeitete Kahlo 1940 in dem gigantischen Gemälde "Die verwundete Tafel", das da Vincis "Abendmahl" nachgebildet ist, mit ihr als der Heiland in der Bildmitte. Kahlo hatte zeitlebens 33 Operationen zu überstehen, ein Jahr vor ihrem Tod musste 1953 ein Bein amputiert werden. In dem Gemälde "Der Marxismus wird die Kranken heilen" vermischte sie ihre durch Leiden ausgebaute "Privatreligion" mit der kollektiven Erlösungsideologie des Marxismus.

Zum Abschluss der Tagung machte der Sportwissenschaftler Bernd Wedemeyer-Kolwe (Göttingen) auf ein von den Theologen und Historikern bislang unterbelichteten Aspekt des "Tod Gottes" um 1900 aufmerksam: auf die angebliche oder tatsächliche Leibfeindlichkeit des Christentums. Religiöse Gemeinschaften wie die Gruppe "Neugeist" banden den menschlichen Körper in einer Weise in nicht-christliche religiöse Zeremonien ein, deren Wurzeln weniger in Philosophie, Wissenschaft oder Theologie, als in Anthroposophie, Naturheilkunde und Krankengymnastik liegen. Die Begeisterung für ostasiatische Körpertechniken wie Yoga oder Mazdaznan war mit der germanischen Volkstumsideologie durchaus kompatibel; verschiedene neuheidnische Gruppen setzten auf "Runen-Yoga" als Körperertüchtigung.

Von der Tagung "Religion nach dem ‚Tod Gottes'" können zweierlei Ergebnisse mitgenommen werden: Erstens ist Nietzsches Diktum offenbar nur vor dem konkreten Hintergrund des Zustandes der christlichen, speziell der evangelischen, Kirche in Gründerzeit und Wilhelminismus zu verstehen und sinnvoll zu interpretieren. Zweitens gibt es seit mehr als 100 Jahren einen Trend zur Verkörperlichung und Privatisierung der Religion im engeren Sinne, wobei immer ein weiteres Verständnis von Religion - nationalistische und kommunistische Religionssubstitute wurden am Rande thematisiert - zu berücksichtigen bleibt. Wie sich Christen zu diesen Tendenzen stellen sollten, darüber konnte unter den Tagungsteilnehmern kein Konsens erzielt werden. "Körperliche" Formen wie Tanz, Gospel oder Spiele schienen bei Kirchgängern eher auf Zustimmung zu stoßen, während sie für die Theologen nur als Ergänzung des geistigen Gehalts des Christentums akzeptabel waren.

1 Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, `La gaya scienza´, Leipzig (1930), Drittes Buch Nr. 125.
2 Carl Zuckmayer, Als wär's ein Stück von mir. Horen der Freundschaft, Frankfurt am Main (1966), S. 154.
3 Friedrich Wilhelm Graf, Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, München 2004.


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